28. Oktober 2020 16:02
"Ist ein Freizügigkeitskonto ein Umverteilungsschutz? "
Die Neue Zürcher Zeitung hat gestern die Tipps unter die Lupe genommen, die wir unter "Äpfel und Birnen in der Handelszeitung" bereits kritisiert hatten. Fazit: Mit Altersguthaben in einer Freizügigkeitsstiftung lässt sich zwar oft die Rendite steigern – dafür fallen aber viele andere Leistungen weg
Unter Vorsorgeexperten ist eine heftige Diskussion im Gang. Auslöser war ein Artikel in der «Handelszeitung», in dem Versicherten empfohlen wird, das eigene Vorsorgevermögen (oder Teile davon) auf ein oder besser zwei Freizügigkeitskonti zu verschieben. Der Autor argumentiert, dass man sein Geld auf diese Art der Umverteilung von den berufstätigen Versicherten zu den Rentnern entziehen könne. Denn nur ein Teil der Anlagerendite auf den Vermögen der im Arbeitsmarkt Aktiven wird diesen auch gutgeschrieben.
Weil die Umwandlungssätze für die Rentenbezüge zu hoch angesetzt sind, wird ein Teil der Rendite für laufende Rentenauszahlungen verwendet. Im Jahr 2019 betrug die Umverteilung gemäss der Oberaufsichtskommission berufliche Vorsorge 7,2 Mrd. Fr. Einerseits fand diese Umverteilung von aktiven Versicherten zu Rentnern, andererseits auch aus dem Überobligatorium zum obligatorischen Bereich statt.
Doppelt überbewertet
Der Wechsel von der Pensionskasse in Freizügigkeitslösungen wird gemäss Artikel mit Abertausenden Franken an zusätzlichem Alterskapital belohnt. In Rechenbeispielen über mehrere Jahrzehnte beläuft sich dieses «Zusatzkapital» auf mehrere hunderttausend Franken. Dieses zusätzliche Vermögen soll durch einen höheren Aktienanteil erzielt werden. Einzelne Freizügigkeitslösungen bieten die Möglichkeit, bis zu 100% in Aktien anzulegen. Doch ist es wirklich so einfach – und überhaupt erlaubt –, auf diese Weise sein Altersguthaben «aufzupeppen»? Einführend muss auch erwähnt werden, dass die Aktienhausse, die mittlerweile schon über ein Jahrzehnt anhält, die Dividendenpapiere besser dastehen lässt, als sie wirklich sind. Hohe Bewertungen und ein unsicherer Ausblick für die Wirtschaftsentwicklung, hauptsächlich wegen der Corona-Pandemie, lassen die Wahrscheinlichkeit einer Börsenkorrektur steigen. Doch auch sonst ist das «Vergrössern des Alterskapitals» nicht so einfach, wie der Artikel suggeriert.
«Einfache und allgemeingültige Regeln und Tipps sind beliebt, aber oft steckt der Teufel im Detail», sagt Reto Spring von Academix Consult und Präsident des Finanzplanerverbands Schweiz. Man könne die Vorsorgefrage nicht auf einen Leistungsparameter reduzieren und müsse immer den individuellen Fall betrachten und alle Konsequenzen bedenken. «Es gibt keine einfache Schwarz-Weiss-Lösung, es ist das gleiche Dilemma wie bei der Pensionierung, wenn man sich die Frage stellt: Rente oder Kapital?», fügt Karl Flubacher, Vorsorgespezialist beim VZ Vermögenszentrum, an. In der Realität werde hier meistens die Mischlösung mit Teilrente und Teilbezug gewählt.
Gesetz ist eindeutig
Ein Versicherter kann zudem nicht selbständig entscheiden, dass er von einer Pensionskasse zu einer Freizügigkeitsstiftung wechseln will. Es gibt aber zahlreiche Gründe, wieso die Vorsorgevermögen in eine Freizügigkeitsstiftung übertragen werden. Das kann wegen eines Sabbaticals, einer Babypause, der Aufgabe einer Beschäftigung ohne Anschlussstelle oder aufgrund des Gangs in die Selbständigkeit der Fall sein. Auch der Wechsel zu einem ausländischen Arbeitgeber mit wenig überzeugender Pensionskasse kann gemäss Spring ein Grund dafür sein.
Das Gesetz ist dagegen eindeutig: Nimmt man wieder eine Arbeitstätigkeit auf und zahlt Pensionskassenbeiträge, müssen auch die Freizügigkeitsleistungen in die neue Kasse eingebracht werden. Es gebe gemäss Spring Pensionskassen, die nicht nachhakten, wenn man die Freizügigkeitsgelder nicht auf die neue BVG-Einrichtung überweise. Wenn man sich jedoch in eine Pensionskasse einkaufen will, wird überprüft, ob Freizügigkeitsleistungen ausstehend sind. «Die Pensionskassen sind an den Geldern gar nicht interessiert, weil sie die gesetzliche Mindestverzinsung im Tiefzinsumfeld kaum generieren können», fügt Flubacher an.
Für Arbeitnehmer gebe es aber auch gute Gründe, die Freizügigkeitsleistungen vollständig in die neue Pensionskasse einzubringen: In der PK trägt er kein Anlagerisiko, profitiert von geringeren Kosten, weil ein institutioneller Anleger die Gelder verwaltet, und besitzt anwartschaftliche Versicherungsleistungen für sich und seine Familie bei Arbeitsunfähigkeit und Tod. Diese Leistung berechnet sich zudem nicht nach der Höhe des angesparten Vermögens, sondern nach dem versicherten Lohn. Das Freizügigkeitskonto dagegen ist «nur» eine Anlagelösung. «Wird eine 40-Jährige invalid, ist der Schutz der Pensionskasse ungleich viel besser als jener durch die Gelder in der Freizügigkeit», sagt Flubacher. Auch Rentenzahlungen sind bei Freizügigkeitskonten nicht möglich. Pensionskassen decken dagegen das Langlebigkeitsrisiko ab. Man erhält die Rente bis ins 105. Lebensjahr, wenn man denn so alt wird. Die Lebenserwartung wird auch von Vorsorgeeinrichtungen oft unterschätzt: Viele stützen sich auf die statistische Lebenserwartung. Diese ist aber ein historischer Wert und gilt für den Durchschnittsschweizer ab Geburt, aber nicht für eine fünfzigjährige Schweizerin mit guter Gesundheit.
«Eine Freizügigkeit ist lediglich ein einmaliger und endlicher Kapitalbetrag», sagt Spring. Zudem gebe es im Freizügigkeitsbereich mehr schwarze Schafe als bei den BVG-Einrichtungen. Die Gefahr, Geld zu verlieren durch Missmanagement, Betrug oder zu hohe Gebühren, sei bei Freizügigkeitsleistungen deutlich höher als im stark reglementierten und «ober- und überbeaufsichtigten» BVG-Bereich. Man muss auch unterscheiden, wer seine Altersvorsorge mit einem Freizügigkeitsdepot «selbst» verwalten will. Ein alleinstehender, gutverdienender Vierzigjähriger kann sich das eher leisten als ein weniger gut bezahlter Familienvater. Beim Wechsel der Pensionskasse könnte man den obligatorischen Teil des Guthabens in die neue Kasse und den überobligatorischen Teil auf ein Freizügigkeitsdepot einzahlen. Das ist aber meist nur eine theoretische Lösung, denn viele Kassen arbeiten mit einer umhüllenden Methode, die nicht zwischen diesen beiden Guthaben und Leistungen unterscheidet.
Der Artikel endet mit einem ebenfalls lesenswerten Abschnitt unter der korrekten Aussage "Reform ist überfällig". Nachzulesen in der NZZ von gestern.
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