Kapitalbezug , Reformen , Umwandlungssatz
8. September 2021 15:20
Viel Wirbel um die Rentenreform
Die Neue Zürcher Zeitung lässt heute in einem Gastkommentar Brigitte Pfiffner zu Wort kommen. Sie war bis Ende 2019 Bundesrichterin; von 2017 bis 2019 war sie Präsidentin der Zweiten sozialrechtlichen Abteilung. Am Botschaftsmodell für die Reform der zweiten Säule lässt sie kein gutes Haar.
«Wenn eine Senkung des Umwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge durch die Pensionskassen selber entschädigt werden kann, bedarf es keiner zusätzlichen Lohnprozente der aktiven Bevölkerung.
Der bisherige Reformprozess betreffend die berufliche Vorsorge, so scheint es, missachtet Grundlagen des Dreisäulenprinzips. ... Für die drei Säulen existieren unterschiedliche Finanzierungswege, dies trägt zur Robustheit des Gesamtgefüges bei: Umlageverfahren bei der AHV, Kapitaldeckungsverfahren beim BVG; die Finanzierung der dritten Säule erfolgt, zum Teil steuerbegünstigt, frei und individuell. ... Ins Auge springt der Ausflug in Richtung AHV-Solidaritätsprinzip: 0,3 Lohnprozente aller Erwerbstätigen sollen voraussichtliche Renteneinbussen mildern – eine weitere Umverteilung also von Jung zu Alt. Weshalb ist der Vorschlag für eine Erhöhung der Lohnprozente zugunsten der beruflichen Vorsorge zu hinterfragen? Nicht nur, weil er systemfremd ist, sondern auch, weil es bessere Möglichkeiten gibt, allfällige Renteneinbussen zu mildern, die entstehen, wenn der Umwandlungssatz von heute 6,8 auf 6 Prozent gesenkt wird.
Für Leistungsversprechen müssen Pensionskassen ausreichend Rücklagen bilden. So schlug der Pensionskassenverband Asip im Rahmen der Vernehmlassung für die Revision der beruflichen Vorsorge vor, Renteneinbussen, die durch Senkung des Umwandlungssatzes entstehen, durch Auflösung von Rückstellungen der Pensionskassen zu kompensieren; damit könne ein BVG-Besitzstand für zehn Jahrgänge einer Übergangsgeneration garantiert werden. – Weshalb also Lohnprozente, wenn die Kassen Renteneinbussen autonom auffangen oder doch mildern können? Wenn die Senkung des Umwandlungssatzes durch die Pensionskassen selber entschädigt werden kann, bedarf es keiner zusätzlichen Lohnprozente der aktiven Bevölkerung. Ja, es ist absurd: Eine Senkung des Satzes vermag bestehende Umverteilungen zulasten der erwerbstätigen Bevölkerung zu mildern. Wenn dieser Schritt nun aber begleitet wird von einer generellen Erhöhung der Lohnprozente für alle, wird der Effekt wieder zunichtegemacht. ... Zu hohe Lohnabzüge leisten der Schwarzarbeit Vorschub.»
Am Schluss jedoch verliert sie eines der Grundprinzipien der zweiten Säule wieder aus den Augen, dass nämlich das angesparte Alterskapital den Versicherten gehört. Es würde sämtlichen liberalen Prinzipien widersprechen, diesen den Vorbezug zu verbieten, bloss weil es in Einzelfällen dazu kommt, dass dieses Kapital zu schnell aufgebraucht wird und die betroffenen Pensionierten dann Ergänzungsleistungen beziehen müssen.
Auch das Vorsorgeforum kritisiert die aktuelle Diskussion um die BVG-Reform. Hier jedoch geht es neben der Untauglichkeit des Botschaftsmodells auch um die Frage, wer eigentlich hinter dem Vorschlag steckt, der von der nationalrätlichen Sozialkommission neu präsentiert wurde.
"Eingebracht in die Kommission wurde das Modell von Thomas de Courten, SVP. Da er kaum über das notwendige aktuarische Rüstzeug verfügt, um ein solches selbst zu entwickeln – was auch für die übrigen Kommissionsmitglieder zutreffen dürfte – fragt man sich, wo es seine Ursprünge hat. Die diesbezüglich gut informierte NZZ ortet diese beim Versicherungs- und Gewerbeverband. Die beiden Verbände pflegen über die sgv-Vorsorgestiftung proparis eine langjährige Zusammenarbeit. Aber das notwendige Expertenwissen liegt beim SVV. ... Ob aber das Modell ganz oder zumindest teilweise beim SVV entwickelt wurde, ist hingegen unklar. Die befragten Stellen sind zu diesem Punkt sehr wortkarg. Was sich vielleicht damit erklären lässt, dass niemand daran interessiert ist, dass es als «Versicherungsmodell» in die Annalen eingeht. ...
Wenig Freude hat man beim Gewerbeverband an der vorgeschlagenen Senkung der Eintrittsschwelle, die bisher sakrosankt war. Die Idee dazu scheint vom BSV gekommen zu sein, das sie als einfachste Lösung zur Beseitigung der Probleme bei Teil- und Mehrfachbeschäftigten vorgeschlagen hat. Damit dürften 100’000 oder auch mehr Erwerbstätige neu in der 2. Säule versichert werden, vielfach wohl gegen deren Wünsche und Bedürfnisse. Aber politisch kommt das gut an, wenn auch die Verwaltungskosten teilweise höher als die Renten liegen dürften. Es scheint an der notwendigen Phantasie und Innovationsfähigkeit in dieser wichtigen Frage zu mangeln. Das letzte Wort dazu ist jedoch auch hier hoffentlich noch nicht gesprochen.
Der entscheidende Punkt für beide Verbände – Versicherungen und Gewerbe – ist die Finanzierung der Übergangsmassnahmen. Der einfachste, billigste und auch nächstliegende Vorschlag von ASIP/Mittelweg, die Finanzierung mit den bereitstehenden Mitteln für Pensionierungsverluste, schmeckt beiden nicht besonders. Eine kollektive Finanzierung unter Schonung der individuellen Rückstellungen entspricht eher ihren Interessen. Dass damit alle Versicherten belastet werden, auch solche in Vorsorgeeinrichtungen, die unter erheblichen Anstrengungen ihre Umwandlungssätze in den letzten Jahren massiv gesenkt haben und diesbezüglich von der Revision gar nicht betroffen sind, wird in Kauf genommen. Allerdings könnte sich das noch rächen, wenn man das Vorgehen später dem Stimmbürger einmal plausibel machen müsste. ...
Die bürgerliche Seite leidet – wieder einmal – genug an inneren Spannungen und divergierenden Interessen. Banken gegen Versicherungen und Versicherungen gegen den ASIP, das macht die Durchsetzung einer vernünftigen Lösung schon schwierig genug. Dass nun die Arbeitgeber in Nibelungentreue an einem Modell festhalten, dass eigentlich nicht zu verteidigen ist und von allen Parteien rechts von der SP abgelehnt wird, ist schlicht nicht nachvollziehbar."
Im Tauziehen um die eigenen Interessen scheint vergessen zu gehen, wie schnell man bei einer Gratwanderung abstürzen kann, wenn man sich zu weit vom Mittelweg entfernt.
Diesen Eintrag kommentieren